Kinderprostitution

Ihr Klassenlehrer trieb sie in die Prostitution

29.08.2020, 05.30 Uhr

Ein Mädchen wird jahrelang sexuell missbraucht und psychisch manipuliert, wie viele andere Kinder auch. Die dadurch verursachte psychische Störung erschwert die Aufklärung der Taten.

Es kostete Luzia* viel Kraft, sich als junge Frau von ihrem Lehrer zu lösen. Sie schaffte es nur durch die Flucht in die Arme eines anderen manipulativen Mannes. Erst nachdem die Ehe gescheitert war und Luzia allein mit drei Kindern dastand, begriff sie, welch zerstörerisches Spiel ihr ehemaliger Klassenlehrer mit ihr getrieben hatte.

Aber wer ist sie? Wenn man mit Luzia redet, ist nicht immer klar, von wem sie spricht. Denn die 35-Jährige leidet unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung oder dissoziativen Identitätsstörung, wie Fachleute heute sagen. Die Betroffenen haben mehrere Persönlichkeitsanteile, die in ihrem Leben verschiedene Aufgaben übernehmen. Sie denken und handeln unterschiedlich und wissen meist nichts voneinander. Diese innere Spaltung wird durch schwere traumatische Erlebnisse in der Kindheit verursacht.

Vor mehr als zwanzig Jahren wurde Luzia Opfer von organisierter sexueller Gewalt. Das Ausmass der Misshandlung, das sie schildert, ist so erschreckend, dass man es gern als Einzelfall abtäte. Aber viele Kinder erleben so schwere Misshandlungen, wie Psychiater berichten.

In Luzias Umfeld merkte niemand, in was für ein Netz sie hineingeraten war. Sie wuchs mit drei Geschwistern in einer gutbürgerlichen Familie auf. Die Mutter war aufgrund von gesundheitlichen Problemen oft nicht anwesend und psychisch wenig belastbar. Der Vater war ein unnahbarer und strenger Mann, der mit den Problemen seiner Frau und den Kindern überfordert war. Er habe sich in die Arbeit geflüchtet und sei viel unterwegs gewesen, erinnert sich Luzia. Den Eltern war es sehr wichtig, nach aussen das Bild einer harmonischen Familie zu zeigen. Über Probleme sprach man nicht. 

Als Luzia mit sechs Jahren das erste Mal vergewaltigt wurde, gab es niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können. Der fünf Jahre ältere Nachbarsjunge sei für sie wie ein Bruder gewesen, erzählt sie, und wie selbstverständlich bei ihnen ein und aus gegangen. Eines Tages, als die Mutter einkaufen ging, drängte er Luzia in eine Ecke. Er begann sie auszuziehen. «Ich war vor Angst wie erstarrt und bin gefühlsmässig aus mir ausgetreten. Dann habe ich wie von aussen zugeschaut, was der Junge dem Mädchen antut. Als wäre es jemand anderes.»

Eine solche Dissoziation von den eigenen Empfindungen geschieht bei traumatischen Erlebnissen häufig. Auch bei einem Unfall kann es passieren, dass man weder den Schmerz noch die Emotionen spürt. Aber bei Luzia ging die Abspaltung noch tiefer. Denn es blieb nicht bei dem einen Mal. Sie musste noch viele Übergriffe von dem Jungen ertragen. 

Sie litt sehr unter der ständigen Bedrohung und dem fehlenden Interesse der Eltern. Aber es gab auch einen Teil in ihr, der wieder fröhlich sein, spielen und lachen wollte. Das führte zu einer dauerhaften inneren Spaltung. Es entstanden zwei Persönlichkeitsanteile, die unterschiedliche Funktionen erfüllten. Den neuen Anteil nannte sie insgeheim Anna. «So konnte ich mich damals besser distanzieren», erzählt sie. Anna blendete den Missbrauch so erfolgreich aus, dass sie keinerlei Erinnerung daran hatte. Sie war unbeschwert, fröhlich und lebendig. Im Alltag stand sie meist im Vordergrund.

Luzia leidet schwer unter dem Missbrauch. Sie spaltet Anna ab, die sich nicht daran erinnert und unbeschwert durchs Leben geht.

Die traurige Luzia hatte dagegen wenig Raum, sie kam nur hervor, wenn sie allein war oder wenn der Nachbarsjunge sie missbrauchte. Luzia war auch diejenige, die der Mutter beistand, wenn diese niedergeschlagen war. Sie liess alles Schwere in ihrem Leben über sich ergehen. Aber sie trat bereitwillig in den Hintergrund, wenn die unbeschwerte Anna gefragt war. «Es war meine Lösung, um fröhlich sein zu können», sagt Luzia rückblickend.

Seit zwei Jahren ist sie in Behandlung bei dem Psychiater Jan Gysi, einem Experten für dissoziative Identitätsstörungen. Er erklärt: «Die emotionale Vernachlässigung der Eltern und die Vergewaltigungen führten wahrscheinlich zu einer partiellen dissoziativen Identitätsstörung.» Für die volle Ausprägung der Störung gilt als Kriterium, dass mindestens zwei handelnde Anteile im Alltag auftreten. Bei Luzia war es anfangs nur eine.

Die Traumatherapeutin Michaela Huber hat viel über die dissoziative Identitätsstörung geforscht und geschrieben. Sie erklärt: «Babys und Kleinkinder haben noch kein Ich-Gefühl. Sie reagieren auf ihr Umfeld und geraten von einem Gefühlszustand in den nächsten, ohne sich einer Kontinuität bewusst zu sein.» Erst mit der Zeit lernten Kinder, sich selbst als eine Einheit wahrzunehmen mit unterschiedlichen Emotionen. «Wenn sie über längere Zeit schwere Misshandlungen erfahren, können sie emotional so gestresst sein, dass sie kein einheitliches Ich-Gefühl entwickeln.» Dann entstehen getrennte Persönlichkeitsanteile, die eine unterschiedliche Sicht aufs Leben und auf ihre Biografie haben. Die Betroffenen sind sich dieser Gespaltenheit meist nicht bewusst, denn die verschiedenen Anteile haben Erinnerungslücken, wenn ein anderer Anteil auftritt. Und diese Amnesien fallen ihnen meist auch nicht auf, sie werden einfach ausgeblendet.

Früher ging man davon aus, dass eine solche Störung nur bei Misshandlungen in der sehr frühen Kindheit entstünden. Doch laut Psychiatern kann es auch bei älteren Kindern im Alter von zehn Jahren oder sogar mehr noch passieren. Es sei eine Überlebensstrategie, um mit viel Schmerzen und einer anhaltenden Bedrohung leben zu können, sagt der Psychiater Gysi. Bei Luzia kam es erst im Teenageralter zur vollen Ausprägung der Erkrankung.

Als sie dreizehn Jahre alt war, wechselte sie in eine neue Schule. Mit der lebenslustigen Anna integrierte sie sich schnell in die Klasse. Sie fand neue Freundinnen und schwärmte auch einmal für den ein oder anderen Jungen, wie eine ganz normale Dreizehnjährige. Ihre Trauer und ihr Schmerz blieben im Hintergrund. Der traumatisierte Anteil hatte kein Vertrauen zu Gleichaltrigen, schon gar nicht zu Jungs, und blieb im Hintergrund. Umso mehr sprach dieser Anteil auf das Interesse des Klassenlehrers Daniel H.* an.

Dieser pflegte ein enges Verhältnis zu seinen Schülern. Er ermunterte sie, von ihren Problemen zu erzählen, und hörte aufmerksam zu. «Er hat schnell gemerkt, dass ich nicht so glücklich war, wie ich vorgab», sagt Luzia heute. «Doch anstatt mir zu helfen, hat er mich nur ausgenutzt.»

Anna ist lebenslustig und sozial.

In der Pause und nach der Schule sprach sie immer öfter mit ihm – auch als Luzia – und fasste schnell Vertrauen. Sie erzählte ihm von der Vergewaltigung. Daniel H. erkannte die innere Gespaltenheit des Mädchens und ging individuell auf Anna und Luzia ein. Sie sei etwas ganz Besonderes und habe grosse Möglichkeiten, habe er ihr gesagt. Aber das könne ausser ihm niemand verstehen. 

Bei ihm fühlte sich Luzia verstanden und wahrgenommen. Sie verliebte sich, und bald darauf begann sie eine geheime Liebesbeziehung mit ihrem Lehrer. Er nahm sie in seinem Auto mit, wo sie auch Sex hatten. «Das hat sich falsch angefühlt. Aber die Beziehung war mir zu wichtig. Ich wollte, dass er glücklich ist», sagt sie. Doch was Luzia für eine Liebesbeziehung hielt, war die Vorbereitung auf jahrelange sexuelle Gewalt und Ausbeutung.

Luzia geht eine Liebesbeziehung mit ihrem Lehrer ein.

Die Taktik, Mädchen eine Liebesbeziehung vorzuspielen und sie dann in die Prostitution zu zwingen, ist als Loverboy-Masche bekannt. Die Täter gehen dabei nach einem bestimmten Muster vor. Sie suchen nach vulnerablen Mädchen oder jungen Frauen, die wenig Selbstvertrauen haben. Dann betreiben sie mitunter einen grossen Aufwand, damit sich die Ausgewählte in sie verliebt. Sobald dies geschehen ist, versucht der Loverboy sein Opfer sozial zu isolieren, um es abhängig zu machen. Bald darauf teilt er der Frau mit, dass er in finanziellen Nöten sei, und stellt die Prostitution als einzigen Ausweg dar.

Daniel H. ging ähnlich vor. Mit Luzia hatte er leichtes Spiel. Denn der Anteil, der sich in den Lehrer verliebt hatte, dieses traurige Mädchen, war schon lange isoliert, es wurde ja von sonst gar niemandem gesehen. Erst durch den Lehrer hatte es einen Platz im Alltag gefunden. Es wollte nicht wieder in der Isolation verschwinden.

Daniel H. sei ein manipulativer Mensch gewesen, der alle Schüler und die Lehrerschaft für sich einzunehmen verstanden habe, sagt Luzia. Er ging mit seinen Schülern auch in Klassenlager. Dort begann für das Mädchen der Horror. Wenn nachts alle Kinder schliefen, fuhr er sie im Auto an geheime Treffpunkte, meist im Keller eines verlassenen Gebäudes oder Hotels. Dort habe es viele andere Kinder gegeben, erzählt Luzia. Die meisten seien dem Aussehen und der Sprache nach aus dem Ausland gewesen, aus Russland vielleicht, manche auch aus Deutschland. Sie waren den Männern ausgeliefert, wurden vergewaltigt, gedemütigt und gefoltert. Manchmal hört Luzia noch heute das Weinen und Schreien der Kinder. Sie war eine von ihnen.

Was sie erzählt, ist ungeheuerlich. Man liest von dem amerikanischen Investmentbanker Jeffrey Epstein, der auf seiner Privatinsel regelmässig zum Missbrauch von Kindern eingeladen haben soll. Aber dass so etwas in der Schweiz oder in Deutschland geschieht, das will man kaum glauben. Für die Psychotherapeutinnen Michaela Huber oder Regula Schwager, die seit vielen Jahren mit den Opfern sexueller Gewalt arbeiten, ist es dagegen nichts Neues. Wie real die Berichte sind, das zeigen die laufenden Ermittlungen um Missbrauchsfälle in Bergisch-Gladbach. Sie weisen auf ein riesiges Netzwerk von Tätern im deutschsprachigen Raum hin, die unzählige Kinder missbraucht, verliehen und verkauft haben.

Das erste Mal, als Daniel H. Luzia an so ein Treffen brachte, war sie emotional schon so abhängig von ihm, dass sie sich nicht wehrte. Aber weil sie die Angst und die Qual nicht aushielt, kam es zu einer weiteren Spaltung. Es entstand Sara. Sara ertrug die Gewalt der Männer. Sie wusste, dass Daniel H. Geld dafür bekam. Für ihre gemeinsame Zukunft, wie er ihr erzählte. Sie würden heiraten, ein grosses Haus und viele Kinder haben. 

Sara lebte für diese Zukunft. Sie kannte nur die Kinderprostitution und bekam vom Leben der anderen Anteile nichts mit – so wie Anna und Luzia nichts von Saras Welt wussten. Jede lebte in einer anderen Realität. Anna in der scheinbar heilen Familienwelt und in der Schule, Luzia für die Liebesbeziehung mit dem Lehrer und Sara in der Kinderprostitution.

So gespalten Luzias Psyche war, der Körper war derselbe. Oft hatte sie Schmerzen von den Misshandlungen. Zurück im Alltag, konnte sie sich nicht erklären, woher diese kamen, und suchte immer wieder Ärzte auf. Diese stellten anale Verletzungen fest. Aber keiner fragte nach. Nur ein Arzt wurde misstrauisch, ihm fiel Luzias Schmerzunempfindlichkeit bei der Untersuchung auf. Er schrieb an ihren damaligen Gesprächstherapeuten und deutete an, dass hinter den Verletzungen mehr stecken könne. Das geht aus einem medizinischen Bericht von damals hervor. Doch der Therapeut ging nicht darauf ein. 

Luzia suchte als Teenager immer wieder psychologische Hilfe. Sie hatte Albträume, wurde magersüchtig, begann sich zu ritzen und litt unter ihrer Gespaltenheit, auch wenn ihr diese nicht bewusst war. Auch die Therapeuten begriffen nicht, was dahintersteckte.

Die dissoziative Identitätsstörung ist vielen Psychotherapeuten und Psychiatern kaum bekannt, obwohl sie laut Experten etwa gleich häufig auftritt wie die Schizophrenie. Aber sie hatte lange den Ruf, eine eingebildete Krankheit zu sein. Erst 2019 wurde sie offiziell anerkannt und in die neuste Version des internationalen Verzeichnisses der Krankheiten ICD-11 aufgenommen. 

«Aber es fehlt an Psychotherapeuten, die die Expertise haben, um die Krankheit zu diagnostizieren und zu behandeln», sagt Gysi. Das sei ein grosses Problem, denn die Patienten würden täglich mehr. Laut Experten hat der Missbrauch von Kindern im Zuge der Digitalisierung zugenommen und deshalb auch die damit verbundenen psychischen Folgen. Weltweit werden laut einer Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation der Uno jährlich rund 1,8 Millionen Mädchen und Knaben unter 18 Jahren Opfer sexueller Ausbeutung.

Sara lebt nur in der Prostitution.

Irgendwann war Saras Qual so gross, dass sie es nicht mehr aushielt – sie wollte aussteigen. Aber da ging Daniel H. noch einen Schritt weiter: Er verursachte absichtlich eine weitere Spaltung. «Er muss viel Wissen über diese psychische Störung haben. Denn er wusste genau, wie man einen neuen Anteil schafft, das zeigen die Schilderungen der Patientin», sagt Gysi. Und diese decken sich mit den Erzählungen anderer Betroffener. Daraus schliessen Experten, dass viele Täter genau wissen, wie man neue Anteile macht, wie man sie hervorholt und ihnen droht, so dass andere Anteile nichts davon mitbekommen. 

Die Traumaexpertin Michaela Huber hat viel zu diesem Thema recherchiert und erklärt: «Das Wissen darüber wurde früher von Tätergeneration zu Tätergeneration weitergegeben. Heute geht das auch über das Internet.» Im Darknet haben Ermittler bereits ein «Handbuch für Pädophile» gefunden. Darin steht zwar nicht, wie man eine Person absichtlich spaltet, aber es wird detailliert beschrieben, wie Erwachsene an geeignete Kinder kommen, deren Vertrauen gewinnen und sie missbrauchen können, ohne dass es jemand merkt.

Was für normale Menschen als zu grausam klingt, um wahr zu sein, hören Psychotherapeuten, die mit solchen Patienten arbeiten, immer wieder. «Im Gespräch mit den Klientinnen und Klienten kommt oft heraus, dass die Täter sie absichtlich gespalten haben, um sie besser nutzen zu können», sagt Regula Schwager von Castagna, einer Beratungsstelle in Zürich für in der Kindheit ausgebeutete Menschen. «Denn diese Kinder halten Schmerzen und Misshandlungen aus, die würden Sie oder ich niemals ertragen. Damit lässt sich viel Geld verdienen.»

Und die Täter können sich relativ sicher sein, dass die Kinder nichts verraten, weil sie sich nicht erinnern können. «Selbst wenn sie direkt danach gefragt würden, würden sie nichts sagen. Es ist ja nicht ihnen passiert, sondern dem abgespaltenen Teil von ihnen, der im Alltag nicht auftritt», sagt Schwager.

Um einen neuen Anteil zu erzeugen, fügen die Täter den Kindern unerträgliche Schmerzen zu oder versetzen sie in Todesangst, um eine Dissoziation zu ermöglichen. Mit manipulativen psychologischen Methoden wird dann ein neuer Anteil «programmiert». So ging auch Daniel H. vor. Damit erzeugte er Ivan, dem er die Aufgabe gab, die Mädchen zu kontrollieren. Ivan war dem Lehrer hörig und drohte Sara, wenn diese sich im Alltag bemerkbar machen wollte. Er sorgte auch dafür, dass Luzia nicht zu viel ass. Damit sie dünn und kindlicher aussehe, erklärt sie. Sie hörte Ivan als innere Stimme, die sie beschimpfte und massregelte.

Ohne Beteiligung von Daniel H. entstanden auch noch weitere Anteile, die Luzia dabei halfen, das Leben in diesen drei Welten zu ertragen und zu organisieren. Beispielsweise Antonia, sie trat nie als handelnde Person auf, sondern sie sorgte im Hintergrund dafür, dass die richtigen Anteile da waren, wenn sie gebraucht wurden. 

Luzia lebte in drei Welten, die nicht vereinbar waren

Sie erlebte schweren Missbrauch und spaltete zwölf Persönlichkeitsanteile ab. Diese übernahmen verschiedene Aufgaben und wussten teilweise nichts voneinander.

Luzia lebte in drei Welten, die nicht vereinbar waren - Sie erlebte schweren Missbrauch und spaltete zwölf Persönlichkeitsanteile ab. Diese übernahmen verschiedene Aufgaben und wussten teilweise nichts voneinander.

Antonia ist auch diejenige, die heute erzählen kann, was damals geschah. Sie spricht nüchtern, fast distanziert von den Erlebnissen in der Kinderprostitution. Diese sind nicht ihr passiert, sondern den anderen Anteilen. Nur manchmal stockt sie und blickt konzentriert. Für einige Details müsse sie auf die Schilderung dieser Anteile zurückgreifen, erklärt sie. Auch das hört sie als innere Stimme. 

Es war ein weiter, beschwerlicher Weg, um an diesen Punkt zu kommen. Am Anfang der Therapie brachen diese Anteile ständig aus ihr heraus, sie sprachen und handelten dann so, wie sie es gewohnt sind. Manche von ihnen sind in ihrer Entwicklung stehengeblieben, sie sind immer noch Kinder oder junge Frauen und prostituieren sich. Sie warten auf Daniel H., den sie als ihren Beschützer sehen. Von einem schluchzenden Kind, das nur auf dem Boden sass, wurde Luzia zu Ivan, der in herrischem Ton erklärte, dass sich alle an seine Regeln zu halten hätten.

Ivan massregelt und kontrolliert die Mädchen.

Der Psychiater Gysi hörte den verschiedenen Anteilen zu, als sie begannen, von ihrem Leid und den Misshandlungen zu reden, und er ermöglichte einen Austausch zwischen ihnen. Er habe sie manchmal gefilmt, weil einzelne Anteile nicht hätten glauben können, dass es noch andere gebe, sagt Luzia. Das sei sehr irritierend, sich selbst als völlig anderen Menschen zu sehen und keine Erinnerung daran zu haben. 

Im Alltag blieben diese Anteile meist im Hintergrund oder traten nur dort auf, wo sie gefragt waren. Deshalb fiel Luzias Gespaltenheit kaum auf. Nur manchmal wunderte sie sich, wenn sie aufreizende Kleider in ihrem Schrank fand, die sie sich nie kaufen würde.

Für ihre ältere Schwester war Luzia damals einfach nur unverständlich. «Mal war sie extrovertiert und sehr offen, ein anderes Mal total verschlossen», sagt sie. «Aber wir waren uns nicht nah, und ich habe mir nicht viele Gedanken gemacht.» Allerdings werde ihr rückblickend vieles klarer. Auch warum ihre Schwester sich manchmal wie eine Prostituierte kleidete, nachdem sie von zu Hause ausgezogen war.

Als Luzia sechzehn Jahre alt war, verlor Daniel H. das sexuelle Interesse an ihr. Aber er hatte dafür gesorgt, dass die emotionale Bindung erhalten blieb. Es gab genug Anteile, die nur für ihn lebten. So brachte er Luzia dazu, sich weiter zu prostituieren und sich «hochzuarbeiten». Sie sollte selbständiger werden im Umgang mit den Freiern – das Geld gab sie weiterhin ihm. 

In ihrem anderen Leben begann sie ein Praktikum in einem Pflegeberuf. Eine spätere Ausbildung musste sie allerdings abbrechen, weil sie so schwer magersüchtig war und deshalb in eine Klinik eingeliefert wurde. In verschiedenen Aushilfsjobs suchte sie nach einer neuen Beschäftigung. Sie wollte heraus aus der Prostitution, weg von Daniel H. Und dieser Wunsch nahm schliesslich überhand. 

Anfang zwanzig heiratete sie und dachte, einen guten Ehemann gefunden zu haben. Doch bald entpuppte sich dieser als ein herrischer Narzisst, der sie ebenfalls misshandelte. «Aber ich kannte es ja nicht anders, wie hätte ich eine gesunde Beziehung führen können?», sagt sie. In kurzer Folge bekam sie drei Kinder. Erst als ihr klarwurde, dass diese seine Gewaltausbrüche und ihre «Schwäche» miterlebten und darunter litten, brachte sie die Kraft auf, sich von diesem Mann zu trennen.

Einige Zeit blieb sie in einem Frauenhaus. Dann meldete sie sich wieder bei Daniel H. Sie hatte keine Ausbildung, kein Geld, und einige Anteile dachten, dass er ihnen helfen würde. Doch schnell merkte Luzia, dass Daniel H. sich auch an ihren Kindern vergreifen würde. Da packte sie die Wut. Sie wollte, dass er zur Rechenschaft gezogen werde für alles, was er ihr angetan hatte. 

Trotz ihrer inneren Gespaltenheit brachte sie die Kraft auf, ihn anzuzeigen. Doch das Verfahren wurde bald eingestellt. Noch wusste Luzia nicht, dass sie eine dissoziative Identitätsstörung hatte und dass nicht alle Anteile am selben Strang zogen. Ausserdem habe die Staatsanwältin vermutlich nicht gewusst, dass es auch Loverboy-Missbräuche mit Schweizer Opfern gebe, sagt Gysi. Deshalb habe man Luzia nicht geglaubt und es so gedeutet, als wolle sich die junge Frau nur dafür rächen, dass ihre Jugendliebe damals nicht erwidert worden sei.

«In einem Gerichtsprozess haben es solche Menschen allgemein sehr schwer», sagt Gysi. «Wenn eine Frau einmal sagt, sie sei jahrelang missbraucht worden, und ein andermal weiss sie nichts davon, ist es chancenlos. Hier müssen wir einen neuen Weg finden.» In der Schweiz hat sich eine Gruppe von Experten zusammengetan, die die Behandlung der Betroffenen und die Zusammenarbeit mit der Polizei und Justiz verbessern will. «Denn jeder Fall von einer dissoziativen Identitätsstörung ist ein Tatort», sagt Gysi.

Luzia sagt, heute könne sie akzeptieren, dass all diese Anteile zu ihrem Leben gehörten und dass deren Erlebnisse auch ihre Erlebnisse seien. Der Prozess sei schmerzhaft gewesen, aber es gehe ihr trotzdem besser. «Früher war ich im Alltag fröhlich und funktionierte. Abends kam der ganze Schmerz hoch, ich sass auf dem Sofa und konnte nur heulen. Jetzt fühle ich mich eher als eine Einheit. Ich kann auch mal tagsüber traurig sein, das aushalten und darüber reden.»

Ihre Vergangenheit würde Luzia gern hinter sich lassen. Sie will gesund werden, eine Ausbildung machen und sich um ihre Kinder kümmern. Aber der Gedanke quält sie, dass Daniel H. und andere Täter weiterhin aktiv sind. Und sie ist enttäuscht über das Vorgehen der Staatsanwaltschaft: Solange die staatlichen Behörden nicht mit Kompetenz und Engagement gegen die Täter vorgingen, gebe es kein Ende der Ausbeutung.

* Die Namen von Luzia und ihrem Lehrer wurden zur Wahrung der Anonymität geändert.

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