KINDESMISSBRAUCHVERHAFTETE TÄTER

In Italien ist Kindesmissbrauch durch Geistliche bis heute ein Tabu

Alessandro Battaglia war im Alter von 15 Jahren von einem Priester in der Kirchgemeinde Rozzano bei Mailand missbraucht worden. Vor kurzem ist der Täter, Don Mauro Galli, zu sechs Jahren und vier Monaten Haft verurteilt worden. Für Italien ist das ungewöhnlich. In den meisten Fällen von Kindesmissbrauch durch katholische Geistliche werden die Täter nie bestraft. Die Kirchenoberen vertuschen die Verbrechen, und der Staat schaut geflissentlich weg.

Auf der Seite des Täters

Auch im Fall des mittlerweile 22-jährigen Battaglia hätte es so kommen können, wäre seine Mutter nicht so hartnäckig und die zuständige Staatsanwältin nicht so engagiert gewesen. Die Familie war streng katholisch. Die Kirchgemeinde spielte im Leben des Jungen eine sehr wichtige Rolle. Er war in deren Jugendgruppe aktiv und sang im Kirchenchor. «Er war mein spiritueller Vater», sagt Battaglia über seinen Vergewaltiger. «Ich habe bei ihm die Beichte abgelegt und ihm völlig vertraut.» Bis der Vikar den Teenager an einem Abend Ende 2011 nach der Beichte zu sich nach Hause einlud. Erst fühlte sich der Junge geehrt. Als er dann merkte, was der Priester vorhatte, war er wie versteinert.

Am Tag danach vertraute er sich der Mutter an, die sofort beim Pfarrer vorsprach. Dieser wandte sich an den zuständigen Bischof. Die Vorgesetzten zeigten sich besorgt. Der pädophile Priester wurde versetzt, und man versprach, er werde nie mehr in Kontakt mit Minderjährigen kommen. Ein paar Monate später erfuhren die Eltern durch Zufall, dass Mauro Galli nur zwanzig Kilometer entfernt in einer anderen Gemeinde tätig war und dort weiterhin Kinder betreute. Sie wandten sich an die Verantwortlichen im Vatikan und an den Papst persönlich. Ohne jeglichen Erfolg. Als sie drei Jahre nach dem Verbrechen realisierten, dass die Kirche rein gar nichts gegen den pädophilen Priester unternehmen würde, erstatteten sie schliesslich Anzeige bei der Polizei.

Alessandro Battaglia zusammen mit seiner Mutter beim Protest in Rom. (Bild: Andrea Spalinger / NZZ)

«Dieser Vorfall hat mein Leben zerstört», erzählt der dunkelblonde junge Mann und blickt traurig. «Mit der Kirche verlor ich alles, was mir wichtig war, auch meine damalige Freundin und meine besten Kumpels.» Er habe mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen, und in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden müssen. Zwei Jahre lang sei er nicht mehr in der Lage gewesen, die Schule zu besuchen.

Sieben Jahre später scheint das Schlimmste überstanden. Battaglia arbeitet als Grafikdesigner und hat neue Freunde gefunden. Zwar vergeht noch immer kein Tag, an dem er nicht an das traumatische Ereignis jener Nacht denkt. Der selbstzerstörerische Schmerz hat sich aber in eine gesündere Wut verwandelt. «Ich habe den Glauben verloren und will mit der Kirche nichts mehr zu tun haben», sagt er. Am liebsten würde er aus der elterlichen Wohnung ausziehen, damit er die Kirche, in der es passiert ist, nicht mehr jeden Tag von seinem Fenster aus sehen müsste. Momentan kann er sich dies aber nicht leisten.

Der Prozess hat das ganze Ersparte der Familie aufgefressen. Die Anwälte des Priesters haben bereits angekündigt, dass sie Einspruch gegen das Urteil einlegen werden. An einen neuen Prozess mag Battaglia derzeit nicht denken. Der erste war zu schmerzhaft gewesen. Die Verteidiger hatten alles versucht, um ihn mit Schmutz zu bewerfen. Das unbeirrte Vorgehen der Justiz und die verhältnismässig hohe Strafe haben die Familie jedoch bestärkt. Mittlerweile stehen sie auch in Kontakt mit dem Opferverband Rete LAbuso und fühlen sich nicht mehr so alleingelassen. Battaglia, der anfangs aus Scham nicht einmal seiner Mutter im Detail erzählen konnte, was vorgefallen war, spricht heute vor Fernsehkameras darüber. «Ich werde alles tun, damit anderen Jugendlichen nicht das Gleiche widerfährt», sagt er. Missbrauch komme in allen Bereichen der Gesellschaft vor. Nirgendwo sonst würden die Täter jedoch so systematisch geschützt wie in der katholischen Kirche.

Während in den letzten Jahren in vielen Weltgegenden Missbrauchsskandale publik geworden sind, ist es in Italien recht still geblieben. In lateinischen Ländern habe die Kirche noch viel mehr Einfluss auf die Gesellschaft als etwa im angelsächsischen Raum, erklärt der Journalist Emiliano Fittipaldi, der ein Buch zum Thema geschrieben hat. Die Kirche werde in Italien, Spanien oder Portugal von vielen noch immer als unantastbare Autorität gesehen.

Auch in Italien sind in den letzten Jahren schwere Missbrauchsfälle bekanntgeworden, wie etwa jener im Institut Provolo bei Verona, wo taubstumme Kinder über dreissig Jahre hinweg von Priestern auf schlimmste Weise missbraucht worden waren. Solche Fälle schafften es hierzulande aber kaum über die vermischten Meldungen der Lokalzeitungen hinaus und würden nicht wie anderswo zu einem nationalen Skandal, sagt Fittipaldi. Francesco Zanardi, Missbrauchsopfer und Präsident von Rete LAbuso, kritisiert die Rolle der italienischen Medien scharf. Die grossen Zeitungen und Fernsehkanäle ignorierten das Thema vollkommen. Das ermögliche es auch der Politik und der Justiz, wegzuschauen. Staatliche Untersuchungskommissionen wie in anderen westlichen Ländern sind unter diesen Umständen unvorstellbar. In Italien fehlt es bis heute an den grundlegendsten Dingen wie einer offiziellen Datenbank, Beratungsstellen und präventiven Massnahmen.

Über 140 Geistliche verurteilt

Laut einer von Rete LAbuso geführten Statistik mussten sich allein in den letzten 15 Jahren 300 Geistliche in Italien vor Gericht verantworten. Über 140 von ihnen sind wegen sexueller Übergriffe gegen Minderjährige verurteilt worden. Dabei handelt es sich allerdings wohl nur um die Spitze des Eisbergs, weil Missbrauchsfälle oft nicht oder erst viele Jahre später gemeldet werden.

Die Richtlinien der italienischen Bischofskonferenz sehen bis heute keine Anzeigepflicht für Geistliche vor, die von Missbrauch durch Untergebene oder Mitbrüder erfahren. Bischöfe, die Täter schützen und Verbrechen systematisch vertuschen, kommen absolut straffrei davon. Laut den Lateranverträgen aus dem Jahr 1929 muss Italiens Justiz jeweils die zuständigen Bischöfe informieren, bevor sie eine Untersuchung gegen einen Priester einleitet. Das gibt Straftätern (nicht nur in Fällen von Missbrauch) die Möglichkeit, Spuren zu verwischen oder sich aus dem Staub zu machen.

Laut dem Anwalt Mario Caligiuri, der Missbrauchsopfer vertritt, ist dies von einem modernen rechtlichen Standpunkt aus inakzeptabel und müsste dringend geändert werden. Nur in wenigen Fällen komme es nämlich zu innerkirchlichen Verfahren, und gerade im Fall von Missbrauch seien die Prozesse im Vatikan höchst fragwürdig. Die Kirche behandle sexuelle Übergriffe nämlich als moralische Verfehlung, das heisst, als Sünde vor Gott und nicht als kriminelle Handlung gegenüber dem Opfer.

Kardinal Gualtiero Bassetti, der der italienischen Bischofskonferenz vorsteht, zusammen mit Papst Franziskus auf dem Petersplatz. (Bild: Max Rossi / Reuters)

Der Präsident der italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Gualtiero Bassetti, sagte kürzlich in einem Interview mit TV2000, die jüngsten Missbrauchsskandale liessen einen erschaudern, und man setze sich auch in Italien mit dem Problem auseinander. Konkret passiert ist hier aber gar nichts. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass der Papst in der Frage sehr inkonsequent ist. Franziskus hat Kindesmissbrauch zwar scharf verurteilt, vor der eigenen Haustür aber nichts dagegen unternommen.

Rete LAbuso hat auf seiner Website vier haarsträubende Beispiele aus dem Vatikan und Italien dokumentiert, über die Franziskus persönlich informiert war. In allen Fällen wurden die Täter von den verantwortlichen Bischöfen gedeckt, und für die Vorgesetzten hatte das keinerlei Konsequenzen. Viele wurden gar befördert. So auch der im Fall von Alessandro Battaglia für die Vertuschung verantwortliche Bischof, Mario Delpini. Er wurde 2017 von Franziskus zum Erzbischof von Mailand ernannt.

«Italien ist für pädophile Priester bis heute eine Insel des Glücks», sagt der Aktivist Zanardi. «Sie wissen, dass sie dank der Kultur des Schweigens hier weiterhin tun und lassen können, was sie wollen.» Zu Beginn der Jugendsynode hat sein Opferverband letzte Woche vor dem Vatikan demonstriert. Das kleine Grüppchen wurde von der italienischen Polizei aber schnell von den Touristen weg in einen angrenzenden Park geschoben. Battaglia und andere Opfer wollen aber nicht mehr länger ignoriert und gegängelt werden. Während eines Treffens in Rom haben sie einen Antrag an die italienische Justiz unterzeichnet, in dem sie mehr Schutzmassnahmen, eine Anzeigepflicht und eine Revision der Lateranverträge fordern.

Viele Worte, wenig Taten

Auch unter Franziskus tut sich die katholische Kirche noch immer schwer mit dem Kampf gegen den Kindesmissbrauch. Wenn sie nicht proaktiver wird, dürfte in den kommenden Jahren ein wahrer Tsunami über sie hereinbrechen.

Andrea Spalinger, Rom 26.09.2018

Franziskus Lippenbekenntnisse

Kein Papst hat Pädophilie so wortgewaltig verurteilt wie Franziskus. Doch in der Praxis schützt die katholische Kirche auch unter ihm noch immer die Täter in den eigenen Reihen.

Andrea Spalinger, Rom 20.01.2017

Katholisch, aber weniger römisch

Papst Franziskus ist nun seit fünf Jahren im Amt. Gegen die von ihm angestossenen Veränderungen gibt es teilweise heftige Widerstände, etwa bei der Kurienreform.

Stefan Reis Schweizer 13.03.2018

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