“Was ist dein liebstes Tier, Grace?” – “Ein Elefant.” – “Kannst du einen Elefanten malen?” Grace schaut auf die leere Seite in dem Notizbuch, kuschelt sich an, schaut fragend, ob sie das wohl darf, erwägt, ob sie es selbst auch wirklich will, dann drückt sie sich noch ein bisschen näher ran und malt drauflos: zwei gerade Linien, die am oberen Ende durch einen Kringel miteinander verbunden sind, und an denen unten zwei Schlaufen hängen, die, wohlwollend betrachtet, zwei riesige Elefantenohren sein könnten.
Wer die Geschichte von Grace verstehen will, muss ihre Mutter kennenlernen.
Wann Grace geboren ist? Das weiß sie nicht so genau. Grace’ Mutter, Agnes, balanciert den elf Monate alten Halbbruder von Grace auf dem Schoß, viereinhalb sei Grace. Ungefähr. Wie alt sie selbst war, als Grace geboren wurde? Das weiß sie auch nicht so genau. Sie hebt ihr T-Shirt und schiebt den zappelnden Kleinen an ihre winzige Brust, damit er sich beruhigt. Sie selbst ist jetzt 21, das weiß Agnes. Aber sie kann das Alter ihrer Tochter nicht abziehen von ihrem eigenen, um zu errechnen, wie alt sie war, als Grace geboren wurde. Agnes ist nie zur Schule gegangen. Lesen und Schreiben hat sie nie gelernt. Tage und Wochen unterscheiden sich kaum für sie. Vielleicht ist das der Grund, warum Geburtstage für sie keine Rolle spielen. Was aus dem Mann geworden ist, der Grace’ Vater ist? Das weiß sie nicht. Ob sie lange ein Paar waren? Nein. Ob er weiß, was Grace angetan wurde? Nein. Ob sie jetzt mit dem Vater von Anthony, dem Kleinen auf ihrem Schoß, zusammenlebt? Nein. Männer als Väter scheinen in Agnes’ Leben keine Rolle zu spielen. Männer als Geliebte, als Menschen, mit denen man sein Leben teilen möchte, auch nicht. Vielleicht weiß sie nicht einmal, dass es das gibt. Das Glück, einen Menschen zu lieben, einen Mann oder ein Kind.
Agnes musste ein paar Dokumente unterschreiben, deswegen ist sie zum Girls’ Rescue Centre gekommen, dem Heim, in dem ihre Tochter lebt. Ohne Anlass kommt Agnes selten hierher. “Ich habe nicht gedacht, dass irgendetwas mit Grace passieren könnte”, so beginnt Agnes die Geschichte der Vergewaltigung von Grace, “ich wollte nur für ein paar Tage wegfahren.” Warum sie ihre Tochter nicht mitnimmt, erklärt Agnes nicht, warum sie Grace nicht bei ihrer Schwester Joyce abgibt, die in der Nähe wohnt, auch nicht, warum sie das Kind stattdessen bei ihrem Nachbarn zurücklässt, aus dessen verschlossener Hütte die Polizei das vollkommen verstörte Kind erst 24 Stunden nach der Vergewaltigung befreien wird, dafür hat sie keine Erklärung.
Grace wurde von ihrer Tante Joyce gerettet, nicht von ihrer Mutter, es war Joyce, bei der ein Nachbarsjunge anrief und der er sagte, er könne Grace weinen hören, der Nachbar und seine Frau hätten sie eingesperrt, es war Joyce, die eilig die Polizei benachrichtigte, und es war Joyce, die das blutige Bettlaken mitnahm als Beweismittel, sollte es jemals zum Prozess gegen den Vergewaltiger ihrer Nichte kommen, weil sie der Polizei nicht traute. Es war Joyce, die der Polizei Geld geben musste, damit die den Verdächtigen verhaftete, es war Joyce, die einem anderen Polizisten die Uniform waschen musste, damit er den Verhafteten zum Untersuchungsgefängnis nach Maua überführt. An Agnes rauschten diese Ereignisse vorüber, als sei es nicht ihr Kind, dem ein Erwachsener den Schoß zerfetzt hat.
Schmal sieht Agnes aus, fast jungenhaft. Eine richtige Arbeit hat sie nicht. Manchmal wäscht sie Wäsche bei anderen Leuten. Manchmal geht sie auf die Miraa-Felder in der Umgebung von Kabuitu, wenn man Helfer bei der Ernte braucht. “Es ist gut, dass Grace hier bei Ripples sein kann”, sagt Agnes tonlos, “ich vermisse sie manchmal, aber wenn ich sie dann einmal sehe, und wie sie strahlt, dann ist es auch gut.” Eine eigene Wohnung kann sich Agnes nicht leisten. Sie wohnt mit ihren zwei Söhnen bei ihrer Großmutter. Einen Mann gibt es nicht. Es gibt ein Bett, auf dem die alte Frau schläft, Agnes und ihre beiden Kinder schlafen auf dem Boden.
“Das ist meins”, sagt Grace. Sie steht vor einem kleinen Bett, das quer zu den Doppelbetten der anderen Mädchen in ihrem Zimmer steht, direkt unter dem Fenster. Heute ist Waschtag. Grace hat schon wie die anderen draußen im Garten Wäsche in Plastikbottichen geschrubbt und dann auf den Pflanzen zum Trocknen ausgelegt. “In mein Bett pass ich auch rein. Schau!” Sie schlüpft aus ihren blauen Plastikschlappen, hüpft auf die Decke und strahlt. Seit einem Jahr schon wohnt Grace hier im Tumaini Girls’ Rescue Centre. Richtig groß ist es in dem Heim nicht, die Decken und Wände sind schon ein bisschen modrig, zum Umzug in ein geplantes größeres Haus fehlt noch etwas Geld. Außer dem Garten und ein paar Springseilen besitzt das Heim auch nicht richtig viel. Aber es ist mehr, als Grace jemals hatte. Sie zeigt einen halbhohen Schrank, mit zwei Schubladen, und die Sachen darin, die gehören ihr, Grace führt sie vor: ein paar T-Shirts, eine rosafarbene Jacke mit einer passenden Mütze dazu, aber die zieht sie nur an, wenn sie am Sonntag zum Kindergottesdienst in die Kirche geht. Dann gibt es noch eine Dose Vaseline, einen Becher mit ihrer Zahnbürste und ihre Schuluniform. Grace führt das auch deshalb besonders gerne und langsam vor, weil sie eigentlich in der Küche eine Tasse mit Porridge essen sollte, die sie nicht will. Manchmal bekommt ihr Essen nicht, manchmal spuckt sie es aus. Allein Esther weiß, dass es nicht am Essen liegt.