Kiel (dpa) – Die Vorwürfe sind erschreckend und empörend: Schwerer Kindesmissbrauch und Vergewaltigung in mindestens 17 Fällen. Doch der ehemalige Leiter einer Cuxhavener Jugendeinrichtung will gleich zu Prozessbeginn deutlich machen: Er sitzt zu Unrecht auf der Anklagebank. Das verkündet er jedenfalls am Dienstag zu Prozessbeginn in Großbuchstaben auf Aktendeckeln, die er vor sein Gesicht hält: «ICH BIN UNSCHULDIG!».
Die Jugendkammer des Kieler Landgerichts hat die Anklage aber zugelassen und das Hauptverfahren gegen den 46-Jährigen eröffnet. Das geschieht nur, wenn das Gericht von einem hinreichenden Tatverdacht ausgeht. Zudem sitzt der Arbeits- und Sozialpädagoge aus dem Kreis Segeberg seit Anfang des Jahres in Untersuchungshaft. Die Leitung einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen wurde ihm bereits im Februar 2018 entzogen – aufgrund von Strafanzeigen. Im Falle einer Verurteilung drohen dem Mann mehrere Jahre Haft.
Seine beiden Verteidiger fahren daher schweres Geschütz auf: Auf ihren Antrag hin wird die Anklage nicht verlesen. Stattdessen hält die Verteidigung der Staatsanwältin schwerwiegende Versäumnisse und einseitige Ermittlungen zum Nachteil ihres Mandanten «mit teils abenteuerlichen Ergebnissen» vor. Das Ermittlungsverfahren sei «fern von objektiven Erkenntnissen rein inquisitorisch» geführt und entlastende Momente zu wenig berücksichtigt worden. Sie verlangten eine dienstliche Erklärung, dass ihnen alle Akten vorlägen.
Aus den Einwänden der Verteidigung geht auch hervor, dass sich in den Akten Aussagen eines Jungen aus der Jugendeinrichtung befinden sollen, nach der ihn der Angeklagte anderthalb Jahre lang fast jeden Tag schwer missbraucht habe. Das wären rund 500 Fälle und zeige, wie hanebüchen und absurd die Vorwürfe seien, sagte ein Verteidiger.
Gegenstand des Prozesses sind aber nur die 17 Fälle der Anklage, die das Gericht zugelassen hat, stellte eine Sprecherin klar. Nach den Einwänden der Verteidigung werde die Jugendkammer aber nun bis zum nächsten Verhandlungstag am kommenden Montag erneut darüber befinden, ob die Anklage den Anforderungen genüge.
13 der 17 angeklagten Fälle von Kindesmissbrauch wertet die Staatsanwaltschaft als schwer, zwei zugleich als Vergewaltigung. Betroffen von den jahrelangen Übergriffen sind demnach die beiden Kinder der Lebensgefährtin des Angeklagten sowie ein Junge aus der Jugendeinrichtung. Als Tatorte nennen die Ermittler vor allem den Wohnort des Angeklagten im Kreis Segeberg und die Jugendhilfeeinrichtung in Cuxhaven.
Die Mutter der beiden Geschwister soll nichts von den Übergriffen gewusst haben. Die Vorwürfe der Anklage reichen vom Anfassen im Intimbereich bis zum erzwungenen Oralverkehr. Die Einrichtung in Cuxhaven soll der Mann mehrere Jahre lang bis Anfang 2018 geleitet haben.
Die Jugendkammer des Landgerichts hat 13 Verhandlungstage und etliche Zeugen vorgesehen. Auch zwei Psychologinnen sind als Sachverständige hinzugezogen. Das Urteil könnte demnach Ende Oktober fallen. Da der Mann die Vorwürfe bestreitet, müssen die betroffenen Kinder wahrscheinlich vor Gericht vernommen werden.