Sechs Jahre Freiheitsstrafe plus ambulante Therapie: Mit diesem Urteil wollte das Bezirksgericht Winterthur im Juni 2012 einem einschlägig bekannten Kinderschänder eine «allerletzte Chance» gewähren. Doch weder der Beschuldigte noch der Staatsanwalt wollten das Verdikt akzeptieren. So ist der 66-Jährige am Montag vor dem Zürcher Obergericht gestanden. Dies wegen eines Übergriffs, der vor vier Jahren für Angst und Schrecken sorgte.
Das kam so: Am 13. Juli 2010 ist der EDV-Berater mit dem Auto im Raum Winterthur unterwegs, wo er gezielt nach Opfern Ausschau hält. Bei Dinhard erblickt er einen jungen Velofahrer. Umgehend zwingt er den 15-Jährigen zum anhalten, fesselt ihn an Händen und Füssen, verklebt ihm den Mund und bugsiert ihn in den Kofferraum. Dann fährt er in ein abgelegenes Waldstück, wo er dem Teenager die Fesseln löst und versucht, ihn mit der Hand und dem Mund zu befriedigen. Als sich der Jugendliche weigert, ihn oral zu befriedigen, lässt er ihn schliesslich laufen.
Dass er sich der Freiheitsberaubung und sexueller Handlungen mit Kindern schuldig gemacht hatte, bestritt der Mann vor Obergericht nicht. Allerdings wehrte er sich dagegen, dass ihn die Vorinstanz auf Antrag der Staatsanwaltschaft auch wegen sexueller Nötigung verurteilt hatte. «Der Bursche war viel stärker, als man meint», sagte er. «Ich bin überzeugt, dass er nicht starr vor Angst war.» Sein Anwalt verlangte eine milde Strafe. Er argumentierte, dass sexuelle Nötigung voraussetze, den Willen des Opfers zu brechen. Der Jugendliche sei aber nicht willenlos gewesen – sonst hätte er gewisse Handlungen nicht verweigert.
Der Staatsanwalt sah das natürlich anders. Er plädierte dafür, die Strafe auf 9 Jahre zu erhöhen. Der Geschädigte habe Todesängste ausgestanden und bestimmt nicht die Wahl gehabt, zu allem «Nein, danke» zu sagen, nachdem er gefesselt, in einen Kofferraum gesteckt und in einen Wald geführt worden sei. Vielmehr habe er das «typische Verhalten eines Entführungsopfers» an den Tag gelegt, mit dem Ziel, das Schlimmste zu vermeiden. Den Beschuldigten stellte der Staatsanwalt als uneinsichtigen Wiederholungstäter dar, der die Schuld stets bei anderen suche.
Tatsächlich ist der 66-Jährige alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. In den sechziger und siebziger Jahren wird er mehrmals verurteilt, wegen Nötigungen und – wie es damals heisst – unzüchtiger Handlungen mit Kindern. 1976 lässt er sich freiwillig kastrieren, danach führt er lange ein unauffälliges Leben als Familienvater, bis er die Schwulenszene entdeckt. Da er sexuell aktiv sein will, lässt er sich Testosteron verschreiben. Damit erweckt er jedoch auch seine pädophilen Neigungen zu neuem Leben. 1997 vergreift er sich in Zurzach an einem Knaben. Vor Gericht schiebt er die Schuld für die Tat seinem Hausarzt zu, der ihm neue Präparate verschrieben habe, ohne deren Wirkung zu kontrollieren. Da er versichert, nie wieder Hormone zu nehmen, kommt er mit einer bedingten Strafe davon. Trotzdem lässt er sich später wieder Testosteron verschreiben – bis er in Dinhard erneut zuschlägt.
Sein altes, gebrochenes Versprechen, künftig weder Hormone zu nehmen noch Kinder zu missbrauchen, wiederholte der Beschuldigte am Montag auch vor dem Obergericht: «So etwas wird nicht mehr vorkommen», versicherte er. Die Richter attestierten dem Pädophilen eine leicht verminderte Schuldfähigkeit, da er unter einer «Gemengelage von Persönlichkeitsstörungen» leidet. Seine jüngste Tat werteten sie aber als sexuelle Nötigung, wobei sie beim Strafmass der Vorinstanz folgten. Den Auftritt des 66-Jährigen taxierten sie als «zwiespältig»: eloquent und intelligent, aber auch mit einer «klaren Tendenz, zu bagatellisieren». «Ich frage mich, ob Sie begriffen haben, was Sie getan haben», sagte einer der Richter.
Der Verurteilte besucht seit einiger Zeit eine Therapie, die ihm nach eigenen Worten «sehr viel» bringt. Es ist auch seine letzte Chance: Schlägt sie nicht an, droht ihm eine Verwahrung.
Urteil SB120443 vom 13. 10. 14, noch nicht rechtskräftig.